Viele haben von Long Covid schon gehört oder gelesen. Kennen allenfalls sogar Betroffene im eigenen Umfeld. Wissen, dass es sich dabei um gesundheitliche Langzeitfolgen der Coronavirus-Krankheit handelt. Was viele aber nicht sehen, ist, dass hinter jedem einzelnen Fall ein grosses persönliches Schicksal steckt. Dieser Text zeigt einen Blick in den Alltag von Betroffenen mit Long Covid. Er zeigt aber auch auf, was geschehen müsste, damit die Betroffenen endlich wieder Licht am Horizont sehen. Spoiler: «Beobachten und abwarten» genügt nicht.
Von Manuel Weingartner, 04.10.2022
«… Jeder Tag ist die Hölle mit der niedrigsten Lebensqualität. Wenige sind mild betroffen und werden gesund. Ich kenne niemand. Die meisten sind dazwischen. Reduziert arbeitsfähig. Chronisch eingeschränkt und unbehandelt.» So beschreibt Chantal Britt, Präsidentin der Patient*innenorganisation «Long Covid Switzerland» eine Krankheit, die nicht gesehen wird.
Der Hashtag #LongCovid wurde bereits im Mai 2020 erstmals auf Twitter verwendet. Seit diesem Tweet einer Patientin wuchs eine Bewegung von Menschen, die sich nach einer Covid-Erkrankung nicht mehr erholten. Seit Mai 2020 kämpfen Betroffene für Anerkennung, Forschung und Behandlung.
Die WHO schätzt, dass in den ersten zwei Pandemie-Jahren 2020 und 2021 alleine mindestens 17 Millionen Menschen in Europa von Long Covid bzw. Post Covid betroffen sind.
Dauert die Erkrankung länger als sechs Monate, also chronifiziert sich die Krankheit im Körper, wird auch von ME (Myalgische Enzephalomyelitis) gesprochen. ME tritt häufig nach einem akuten viralen Infekt auf. Zum Beispiel nach dem Epstein-Barr-Virus. ME ist schon seit Jahrzehnten bekannt. Relativ häufig kommt es nach einem schweren viralen Infekt zu einer länger anhaltenden postviralen Fatigue. Nur ein Teil der Betroffenen erkrankt aber effektiv an ME oder CFS (Chronisches Fatigue Syndrom). Die einen überstehen dies nach ein bis zwei Jahren, bei anderen bleibt die Krankheit über Jahrzehnte. Betroffene von ME/CFS warnten auch bereits im Frühling 2020, dass eine Covid-Erkrankung ME/CFS auslösen kann.
Die in diesem Text angeführten Beispiele und Erfahrungen aus dem Alltag, im Gesundheitswesen, in der Familie etc. wurden zusammengetragen von verschiedenen Betroffenen mit Long Covid bzw. ME/CFS. Nicht alle Beispiele treffen für alle Betroffenen zu. Weiter decken sich viele dieser Beispiele und Erfahrungen auch mit anderen chronischen Krankheiten.
Bei Long Covid ist es wie bei vielen anderen chronischen Krankheiten leider Tatsache, dass es sich um eine versteckte Krankheit handelt. Oft wird, wenn man nicht selber davon direkt oder indirekt betroffen ist, die Krankheit nicht gesehen und nicht wahrgenommen. Weil sich die Tragödien hinter Wänden abspielt, und Betroffene v.a. mit schwerem Verlauf langsam von der Bildfläche verschwinden.
Die Krankheit wird nicht nur nicht gesehen, weil sie im Versteckten passiert. Sie wird nicht einmal gesehen, wenn man die Menschen im realen Leben sieht. Das Leiden, welches die Betroffenen durchmachen, die unvorstellbaren langanhaltenden Schmerzen sieht man den Menschen nicht an. Nachempfinden kann man es als Nicht-Betroffene*r nur schwer. Es folgen nun ein paar gesammelte Erfahrungen, Erlebnisse und Situationen, die Long Covid Betroffene (und andere chronische Erkrankte) tagtäglich durchmachen müssen.
Alltag mit Long Covid
Long Covid ist …
- … wenn du jeden Tag aufstehst und du aufgrund der aktuellen Symptome einschätzen musst, wie du den Tag einigermassen über die Runde bringen kannst. Kann ich aufstehen? Wer kauft für mich ein? …
- … wenn du in deinem Umfeld langsam von der Bildfläche verschwindest, weil du nichts mehr unternehmen kannst. Arbeitsunfähig, keine Treffen mit Freund*innen, keine Ausflüge, keine Ferien. Du bist nur noch ans Bett und Sofa gefesselt. Und wenn es mal raus geht, dann zu einem Therapietermin.
- … wenn du im Sommer bei über 30 Grad auf dem Balkon liegst und du trotzdem noch zwei Decken benötigst, weil du sonst zu kalt hast.
- … wenn du dich am Morgen nach dem Schlaf bereits fühlst, wie um 23 Uhr, nach einem körperlich anstrengenden Tag und du nicht aus dem Bett kommst, weil du deinen Körper nicht bewegen kannst.
- … wenn sich dein Spiegelschrank mit ein paar Pflästerchen und Schmerzmittelchen in ein paar Monaten in eine ganze Apotheke verwandelt hat.
- … wenn seit vielen Monaten ein 15-Minuten-Spaziergang ein Fortschritt ist und es das Highlight des Monats ist, du aber gleichzeitig hoffst, dass es wegen dieser Anstrengung in den kommenden Tagen nicht wieder schlimmer wird.
- … wenn du dir eingestehen musst, dass du einen Rollstuhl benötigst.
- … wenn du mehrere Stunden benötigst, um den Geschirrspüler auszuräumen.
- … wenn sogar Zähneputzen an gewissen Tagen zu anstrengend ist.
Belastungsintoleranz – Pacing
Viele Betroffene leiden an Post-Exertional Malaise (kurz: PEM). PEM bezeichnet die für ME/CFS und Long Covid typische Belastungsintoleranz. Das bedeutet, dass sich deine Symptome sich nach geringfügiger körperlicher und/oder geistiger Anstrengung verschlechtern. Diese Verschlechterung wird oft auch als „Crash“ bezeichnet. Die Symptome werden schlimmer, können so schlimm werden, dass man nur noch liegen kann, und jeder Crash geht mit der Gefahr einer Chronifizierung des verschlechterten Gesundheitszustandes einher. Die Crashes dauern manchmal ein bis zwei Tage, bei schwer Betroffenen hört der Crash nie auf.
Die einzige Strategie gegen die Crashes ist das sogenannte „Pacing“ – also das strikte Einteilen der eigenen Energie und Aktivitäten.
PEM frühzeitig zu erkennen ist wichtig und kann diese „Crashes“ reduzieren.
Altea, ein Long Covid-Netzwerk der Schweiz, hat einen 5-Phasen-Plan erarbeitet, um wieder zurück in den Alltag zu kommen. Viele Betroffene kommen aber über Monate und Jahre nicht aus der Phase 1 heraus.
Gesundheitswesen vs. Long Covid
Long Covid ist …
- … wenn du bei jeder ärztlichen Fachperson hoffen musst, dass du von ihr akzeptiert und ernst genommen wirst.
- … wenn du aufgrund der langen Warteliste monatelang auf einen Long Covid Sprechstundentermin im Spital warten musst.
- … wenn dir zum wiederholten Mal eine ärztliche Fachperson fälschlicherweise erklärt, dass es sich bei Long Covid nur um eine psychosomatische Krankheit handelt.
- … wenn du monatelang auf eine offizielle Diagnose warten musst.
- … wenn du vor Sorgen und Verzweiflung bei der Ärztin weinst, weil du nicht mehr weiter weisst.
- … wenn du feststellst, dass alle Spitex-Organisationen in deiner Umgebung aufgrund Personalmangel komplett ausgelastet sind.
- … wenn dir eine ärztliche Fachperson Sport empfiehlt, und dies alles verschlimmert, weil die Fachperson PEM/Belastungsintoleranz bei Long Covid nicht kennt.
- … wenn dich eine ärztliche Fachperson fragt, ob du selber ein*e Ärzt*in bist, weil man aus reiner Besorgnis und Verzweiflung das ganze Internet zu dem Thema durchgelesen hat.
Das Know-How fehlt
Eine Umfrage der Schweizerischen Gesellschaft für ME & CFS (SGME) im Jahr 2021 zeigt erschreckende Zahlen: 16% der Hausärzt*innen anerkennen die Krankheit ME und CFS nicht, obwohl es eine offizielle Krankheit der WHO ist. 65% der Hausärzt*innen anerkennen die Krankheit, aber kennen sich damit nicht aus. Und nur 16% anerkennen die Krankheit und kennen sich damit aus.
Es fehlt Know-How in den Praxen. Es fehlen (inter-) nationale Behandlungsleitfäden. Es gibt immer noch viel zu wenige Weiterbildungsmöglichkeiten für ärztliche Fachpersonen.
Einer der grössten Missstände auch in der Schweiz ist, dass Ärzt*innen Long Covid bzw. Post Covid und ME&CFS als psychosomatische, anstatt eine neuroimmunologische, also somatische Erkrankungen beurteilen/behandeln. Und deshalb behandeln ärztliche Fachpersonen Long Covid wie bei einer Anpassungsstörung oder Depression – mit Sport und Aktivierung. Was bei Depressionen helfen kann. Bei Long Covid mit PEM (Belastungsintoleranz) verschlechtert/chronifiziert sich mit dieser Behandlung den Krankheitszustand.
Mögliche Behandlungsansätze
Mittlerweile gibt es in allen drei Sprachregionen und in insgesamt 18 Kantonen spezialisierte Angebot. Mindestens 40 interdisziplinäre spezialisierte Sprechstunden, sowie 24 ambulante und 30 stationäre Rehabilitationsprogramme.
Die Sprechstunden sind immer noch massiv überfüllt, bzw. es muss monatelang auf einen Termin gewartet werden. In den Sprechstunden müssen Fragebögen ausgefüllt werden. Mit diversen Untersuchungen und nach dem Prinzip Ausschlussverfahren wird dann eine Diagnose erstellt.
Eine heilende Therapie, ein heilendes Medikament gibt es (noch) nicht. So wird in den Sprechstunden dann Physiotherapie, Ergotherapie, Psychotherapie, Antidepressiva, Reha-Aufenthalte oder teils auch Alternativmedizin-Therapien verschrieben.
Eine Physiotherapie, in der nicht auf das Pacing geachtet wird oder in der Steigerungen angestrebt werden ist gefährlich. Eine Reha-Klinik, welche Pacing und Belastungsintoleranz nicht kennt, kann den Krankheitszustand wieder verschlechtern. Es gibt viele Betroffene in der Schweiz, die nach einem Reha-Aufenthalt schlechter nach Hause zurückkehren, als sie gegangen sind.
Erfahrene Ärzt*innen zum Thema Long Covid und ME/CFS sind leider noch sehr rar. Und so pilgern viele Betroffene von Praxis zu Praxis, bis sie hoffentlich irgendwo ernst genommen und so gut wie möglich versorgt und unterstützt werden. Wenn man nicht vorher schon aufgibt. Oder es gar nicht mehr aus dem Haus schafft.
Der Verein Long Covid Schweiz hat die möglichen Behandlungsansätze bei Long Covid auf ihrer Webseite aufgeführt. Dies sind etablierte Therapien zur Symptomlinderung (Pacing, Ergotherapie, Physiotherapie, Rehabilitation), symptomorientierte Behandlungen, Medikamente und Therapien und auch publizierte Fallberichte ohne bzw. mit noch nicht abgeschlossenen Studien. Sehr zu empfehlen für alle Betroffenen und deren Angehörige.
Viele Betroffene sind so verzweifelt, dass sie teure (und von den Krankenkassen nicht bezahlten) Therapien wie die H.E.L.P.-Apherese oder Immunadsorption-Apherese vornehmen. Bei den einen wirkt es, bei anderen nicht. Aber in der Verzweiflung wird alles ausprobiert, was finanziert werden kann.
Unterstützung
Long Covid ist …
- … wenn du plötzlich auf Hilfe und Betreuung angewiesen bist, weil aufgrund der Symptome im Haushalt gar nichts mehr geht.
- … wenn dir Freund*innen ungefragt Essen vorbeibringen, um dich zu entlasten.
- … wenn dir Plattformen und Netzwerke im Internet dich mit Informationen und Ärzt*innen-Listen unterstützen.
Bis über die Grenzen hinaus
Eine Long Covid Erkrankung ohne Unterstützung funktioniert nicht. Viele Betroffene sind auf Unterstützung von ihren Familien, Lebenspartnern und Freund*innen angewiesen. Dinge im Alltag, wie den Haushalt führen, den Wocheneinkauf machen usw. sind nicht mehr möglich. Und müssen darum vom nahen Umfeld übernommen werden. Ohne Unterstützung aus dem Umfeld geht es praktisch nicht mehr.
Aber diese Unterstützung kann Menschen an ihre Grenzen bringen – und auch darüber hinaus. Angehörige von Long Covid Betroffenen müssen plötzlich alles unter einen Hut bringen: Care-Arbeit, Haushalt, Lohnarbeit usw. Long Covid ist also nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für das Umfeld sehr belastend. Viele Care Givers können nach Monaten an einer Erschöpfungsdepression erkranken. In Zürich gibt es seit dem Frühling 2022 eine Selbsthilfegruppe für Angehörige von Long Covid Betroffenen. In anderen Kantonen sind solche Gruppen in Planung.
Long Covid in der Familie
Long Covid ist …
- … wenn die Kleinkinder fast täglich fragen: „Ist Mama/Papa endlich wieder gesund?“.
- … wenn du deinen Kleinkindern erklären musst, wie sie reagieren müssen, wenn der Elternteil mit Long Covid plötzlich bewusstlos am Boden liegt.
- … wenn aus dem Nichts Familienmitglieder plötzlich für die Betreuung der Kinder einspringen müssen, und du diese Dankbarkeit ihnen gegenüber nicht in Worte fassen kannst.
- … wenn du Fotoalben von vergangenen Jahren durchblätterst, und es dir dein Herz zerbricht, weil da die ganze Familie noch zusammen Ausflüge machen konnte.
- … wenn deine Kinder, je länger es dauert, auch immer mehr darunter leiden. Die Eltern können weniger mit ihnen unternehmen und haben aufgrund der belastenden Situation weniger Nerven in Alltagssituationen.
- … wenn deine Kleinkinder mit ihrem eigenem Taschengeld Schokolade kaufen und zusammen mit einem «Gude Beserung!»-Blatt, dir vor die Schlafzimmertüre legen.
Lockdown mit Kleinkindern im gleichen Haushalt war schon hart. Das haben viele Familien im Jahr 2020 auf der ganzen Welt am eigenen Leben erfahren. Aber Long Covid und ME/CFS mit Kleinkindern im gleichen Haushalt ist noch härter. Vor allem weil es kein voraussichtliches Ende gibt. Die Mental Load (die psychische Belastung) in der Familie fällt plötzlich auf den nicht erkrankten Elternteil, der alles übernehmen muss.
Und es gibt Elternteile mit schlimmem Long Covid Verlauf, die ihre eigenen Kinder aufgrund der Symptome nicht einmal mehr sehen können.
Am schlimmsten trifft es alleinerziehende Elternteile mit Kleinkindern zuhause. Da ist Pacing praktisch unmöglich, und die Gefahr einer langanhaltender Chronifizierung ist nochmals grösser. Und niemand ist da, der die Mental Load übernehmen kann.
Zudem macht die Krankheit auch nicht vor den Kindern Halt. Gemäss Swiss School of Public Health sind mindestens 7’500 Kinder in der Schweiz von Long Covid betroffen. Die Geschichten und Bilder von Kindern auf der Plattform «Long Covid Kids Schweiz» sind herzzerreissend und rühren einen zu Tränen.
Der beste Schutz gegen Long Covid, bei Kindern und Erwachsenen, ist immer noch eine Infektion oder Reinfektion zu verhindern. Viele Eltern konnten sich in den vergangenen Jahren nie ganz schützen, da die Kinder in die Schule müssen, wo das Virus ohne Maskenpflicht und Luftfilter wunderbar zirkulieren kann. Eltern von schulpflichtigen Kindern sind dem Virus ausgeliefert.
Mitte September 2022 hat eine Umfrage ergeben, dass eine Reinfektion bei 80% von Long Covid Betroffenen den Zustand sogar verschlechtert. Also müssten sich Long Covid Betroffene, die nicht wollen, dass ihr Zustand sich noch verschlechtert, komplett abschotten. Ein Schlag ins Gesicht von Betroffenen mit schulpflichtigen Kindern, die jeden Tag in einem Raum sitzen mit 20 anderen Haushalten und so das Virus früher oder später wieder nach Hause bringen.
Politik
Long Covid ist …
- … wenn du in ein persönliches Schicksal gerätst, welches politisch verhindert hätte werden können. U.a. mit strengeren Massnahmen, früherer Impfung der Kinder, sicherere Schulinfrastruktur, usw. Bis heute schläft die Politik, ergreift keine Massnahmen, um u.a. Geld für Forschung zu sprechen.
- … wenn du, je länger es geht, wütender wirst auf die Politik.
- … wenn du jeden Tag mit anderen ME/CFS Patient*innen und deren Betreuer*innen mitleidest und du einfach nicht verstehst, warum es seit Jahren immer noch keine Akzeptanz, Forschung und Medikamente gegen diese Hölle einer Krankheit gibt.
- … wenn du jahrelang auf ein Medikament warten musst, das dich heilen kann.
Lauter Fehlanzeigen
Was macht die Politik gegen Long Covid in der Schweiz? Naja, wenig bis nichts.
Das Bundesamt für Gesundheit wird aber sicher wissen, wie viele Schweizer*innen an Long Covid erkranken und unter der Krankheit leiden?
Fehlanzeige – ein nationales Register fehlt.
Aber es gibt sicher nationale Kampagnen bezüglich Prävention, Information zu Long Covid?
Fehlanzeige.
Aber das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) hat sicher ein Forschungsprogramm initiiert, welches über den Schweizerischen Nationalfonds gezielt Projekte in diesem Bereich finanziert?
Fehlanzeige.
Aber der Bund wird dafür die Bevölkerung vor Long Covid schützen, also Infektionen und Reinfektionen möglichst vermeiden, zum Beispiel mit simplen Massnahmen wie Maskenpflicht in Innenräumen, Luftfiltern an Schulen, usw.?
Fehlanzeige.
Aber die Politik wird doch wohl nun Millionen für die Forschung von Medikamente gegen Long Covid sprechen? Geld haben wir ja genug (*hust* Kampfjets *hust*) und es ist sicher das Interesse des Bundes, das Leiden von Tausenden von Schweizer*innen mit ME/CFS zu beenden, indem so schnell wie möglich Studien durchgeführt und dann Medikamente zur Verfügung stehen?
Fehlanzeige.
Die Schweizer Politik macht das, was sie seit Beginn der Pandemie am besten kann. Beobachten und abwarten. Es wird abgewartet, bis im Ausland dann mal ein Medikament auf den Markt kommt.
In der Schweiz gibt es praktisch keine aktiven nationalen Politiker*innen, die sich zum Thema Long Covid regelmässig äussern. Journalist*innen, die sich dem Thema Long Covid annehmen, können an einer Hand abgezählt werden. Die Politik in der Schweiz ist beängstigend ruhig, wenn es um das Thema Long Covid geht.
Bis dahin sind News-Meldungen aus der Politik meist einfach nur schmerzhaft für Betroffene von Long Covid:
- Daniel Koch, ehemaliger leitender Bundesangestellter, Juli 2022: «Corona ist nicht mehr gefährlicher als eine Grippe». Schlag ins Gesicht.
- Ueli Maurer, SVP-Bundesrat, geht im Juli 2022 Corona-positiv und maskenlos Hemden kaufen. Dies alles ohne Verstoss gegen Schutzmassnahmen, weil alle bereits aufgehoben wurden. Schlag ins Gesicht.
- Joe Biden, Präsident der USA, September 2022: «Die Pandemie ist vorbei. Alle scheinen in ziemlich guter Verfassung zu sein.» Schlag ins Gesicht.
Es gibt einzelne Lichtblicke für Betroffene. Deutschland macht es vor. Da wird der Aufbau eines Netzwerks zur biomedizinischen Grundlagenforschung von ME/CFS an fünf Unikliniken und eine nationale klinische Studiengruppe an 4 Unikliniken zur Therapieforschung für ME/CFS und Long Covid öffentlich finanziert.
Und die ganze Welt (also zumindest alle Betroffenen von ME/CFS und Long Covid) wartet auf die klinische Studien und dann die Zulassung des Medikaments «BC 007» der Berliner und in der Schweiz domizilierte Firma «Berlin Cures». Dieses Medikament wurde im Spital Erlangen bereits an wenigen Betroffenen erfolgreich eingesetzt und hoffentlich beginnen in diesem Jahr noch die klinischen Studien, damit es nicht erst in fünf Jahren zugelassen wird. Eine Schweizer Firma mit Niederlassung in Berlin könnte hier Millionen von Menschen auf der Welt ein Leben zurückgeben. Ob das BAG oder der Gesundheitsminister Alain Berset die Firma und das Medikament kennt und ob sie dafür verhandeln, dass die klinischen Studien auch in der Schweiz durchgeführt werden? Unbekannt.
Was klar ist: Die Politik könnte mit finanziellem Zustupf solche Studien und Zulassungen von BC 007 und anderen Medikamenten beschleunigen. Und das Leiden der Betroffenen verkürzen.
Gemäss Schätzung der Charité Berlin leidet mindestens 1% der Corona-Erkrankten an starkem Long Covid, also am Vollbild ME/CFS mit Belastungsintoleranz, hohe Bettlägerigkeit, hohe Arbeitsunfähigkeit etc.
Das sind in der Schweiz mehr als 40’000 Menschen.
Das sind mindestens 40’000 Schicksale.
Es braucht in der Schweiz ein nationales Kompetenzzentrum für postinfektiöse Erkrankungen.
Und es braucht dringend klinische Forschung, um die Wirksamkeit und Sicherheit von Behandlungsansätzen wie Medikamenten, Verfahren und Eingriffen zu untersuchen.
Damit diese Schicksale wieder Licht am Horizont sehen.
Zum Autor: Manuel Weingartner ist IT-Projektleiter und freischaffender Autor und lebt mit seiner Familie in Weggis. Er ist Angehöriger einer Long Covid Betroffenen. Viele Beispiele aus dem Text stammen aus eigenen Erfahrungen.